Untertitel: Die frühe Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit - Aufarbeiter-Kommissionen im Dialog

Das Buch gibt Vorträge wider, die am 26. April 2016 im Haus der Wannsee-Konferenz gehalten wurden. Ich fasse hier nur meine eigenen Gedanken zusammen, nicht die Inhalte der Vorträge.

Wie schaffen wir es, keine Individuen zu sehen?

In seiner Begrüßung weist Heiko Maas darauf hin, dass es wichtig für alle Beamten ist, sich der Geschichte ihrer Ämter bewusst zu sein, um künftige behördliche Verbrechen zu vermeiden. Dabei stellt er drei Fragen, die mich auch sehr interessieren:

  • wie gelang den Nazis die soziale Ausgrenzung von Minderheiten?
  • wie wurden massive Menschenrechtsverletzungen ganzer Gruppen sprachlich verschleiert?
  • Wie hat man es geschafft, dass die Menschen nicht mehr das verfolgte Individuum sahen, sondern nur noch eine Bevölkerungsgruppe, der man pauschal negative Eigenschaften zuschrieb?

Die ersten beiden Punkte haben viel mit Viktor Klemperers LTI (Lingua Tertii Imperii - Sprache des Dritten Reichs, erschienen 1947) zu tun, und mit Sternberger/Storz/Sueskinds Aus dem Wörterbuch des Unmenschen von 1962.

Und trotz allen Sprachgebrauchs, und was wir daraus lernen können, ist gerade heute die dritte Frage sehr interessant, weil sich ähnliches gerade wieder beobachten lässt. “Die Ukrainer kommen alle nur her zu uns, um zu schmarotzen und sich vor dem Krieg zu drücken.”, habe ich schon so gelesen oder gehört. “Sie haben alle Gucci-Taschen, fahren Mercedes, arbeiten nie” (weil man sie tagsüber auf der Straße sieht). Aber über ihre Fluchterfahrungen oder auch nur die Gründe für Flucht wird nicht nachgedacht. Wir sehen kein flüchtendes Individuum, sondern nur eine Bevölkerungsgruppe mit zwielichtigen Eigenschaften. Warum tun wir das? Und reden wir über Sinti & Roma, Araber usw. nicht oft so, indem wir nie das Individuum sehen, sondern immer nur die anonyme Gruppe mit negativen Eigenschaften, die wir ihr andichten?

Warum erst 70 Jahre nach dem Ende des 3. Reichs?

Andreas Wuschig nennt in seinem Vortrag Gründe, warum bundesdeutsche Ministerien erst 70 Jahre nach dem Ende des 3. Reiches ihre eigene Geschichte aufarbeiten: u.a. sagt er, daß erst als die DDR unterging, wurde dieses deutsch-deutsche Problem zu einem rein deutschen Problem. Man führte also keinen Kampf mehr mit einem Gegner, es gab keinen Wettstreit, wer besser war, und wir konnten somit endlich der Wahrheit ins Auge sehen. Super, sage ich da nur. Vorher ging es wirklich nicht.

Ab 1990 vollzog sich auch ein Generationswechsel: so wie die Opfer starben die Täter langsam aus. Bewunderung für angehäuften Reichtum oder Macht, Verpflichtungsverhältnisse, Loyalität im Umfeld spielten eine große Rolle, keine kritischen Fragen an Personen wie z.B. Rudolf-August Oetker (und anderer Richter, Politiker, Beamter, Wirtschaftsgrößen usw.) zu richten:

“Erst nach dem Tod dieser Protagonisten konnte offener gefragt werden und sich ein freierer Diskurs etablieren.”

Na, wunderbar. Solange Täter lebten, und mächtig waren, war es unhöflich, über ihre Taten zu reden?

Gleich danach erwähnt Wuschig, daß auch in Archiven oft nix herausgegeben wurde unter alten Archivaren, warum auch immer. Erst eine neue Generation Archivare gab dann alles heraus, was sich fand. Wirsching schlägt vor, dies mal genauer zu untersuchen. Wird aber schwer, denn die alten Archivare sind nun auch langsam alle tot.

Ein weiterer Grund: wir haben, so Wuschig, den Täterbegriff mittlerweile deutlich erweitert. Und so, wie die Antriebskräfte des Regimes immer mehr in die Mitte der Gesellschaft gerückt werden, verschwimmt zunehmend die Grenze zwischen Mitläufer und Tätern. Auch dies ein Folgeproblem der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse, nach denen viele dachten, die Schuldigen sind verurteilt - alle anderen also schuldlos.

Falscher Respekt

An einigen Stellen wird von Herrn Himmler oder Herrn Göring gesprochen. Ich bin zwar dafür, daß alle Menschen einen Anwalt verdient haben, aber die Respektbezeugung der Ansprache mit Herr verweigere ich diesen Personen und auch allen anderen des NS-Führungsapparats. Wenn man über ein Ministerium spricht, daß Himmler unterstellt war, kann man auch sagen “Heinrich Himmlers Ministerium”, statt “Herrn Himmlers Ministerium”. Selbst die minimalste Form von Respekt haben diese Personen nicht verdient.

Kaum belastete Frauen

Wolfgang Krieger führt in einer Unter­suchung über die Geschichte des BND aus, daß es dort viele Frauen mit beträchtlichen Rollen gab und meint damit auf keinen Fall nur Sekretärinnen, “sondern durchaus von Agentenführerinnen oder Managerinnen auf der mittleren Ebene”. Darüber hinaus wurden bislang noch keine NS-belasteten Frauen gefunden, so Krieger auf S.84.

Es gab aber anscheinend keine Frauen in oberen Ebenen des BND, also wirkte das Glasdach noch. Interessant aber auch die Beobachtung, daß es im BND keine NS-belasteten Frauen gab: gab es überhaupt in der NS-Zeit mächtige Frauen in Partei oder Beamten- tun?

Ist das nicht vielleicht auch ein Grund für die Exzeße der Nazis, daß da nur Männer an der Macht waren und sich austobten? Wie steht es zur Zeit stalinistischer Exzesse mit dem Frauenanteil in den oberen Reihen der sowjetischen Macht? Gibt es dazu Untersuchungen? Falls ja, bitte bei mir melden.

Denn ich werde den Verdacht nicht los, daß eben solche schlimmen Dinge, wie sie seinerzeit passierten in menschenverachtenden Systemen stark damit zu tun hatten, dass es immer nur Männer waren, die sich Gründe für Massenmord ausdachten.

Antikommunismus

Eins der großen Motive dafür, die eigene Vergangenheit so lange, nämlich 70 Jahre lang, nicht aufzuarbeiten, war der Antikommunis­mus. Der setzte spätestens 1947 auch in Amerika ein, weil der Kalte Krieg gegen Rußland begann.

In den deutschen Ministerien allerdings kam der Antikommunismus von davor, aus den Köpfen der bereits in der NS-Zeit tätigen Mitarbeiter von Ministerien und Behörden, und diente diesen Leuten auch als Recht­fertigung ihrer eigenen NS-Taten, “denn zumindest in diesem Punkt habe man doch Recht gehabt”. Das einzige, was an dem Begriff Antikommunismus geändert wurde: das Wort war nun nicht mehr mit jüdisch verquickt, wie in “jüdisch-bolschewistisch*. Stattdessen wurde es nun mit “totalitär” verknüpft, was es in der Sowjetunion und im Ostblock auch war. Nur war Kommunismus dort eben wie Religion fast überall ein Vorwand, um für wenige (oft weiße), alte Männer Macht zu begründen. Und dabei wurden die Ideale des Ausgangskonzepts verraten.

Es gibt also auch für den heutigen Antikommunismus unserer Ge­sellschaft Gründe, die auf die NS-Zeit Zurück gehen. Damit meine ich, daß wir Kommunismus oder Sozialismus nie ernsthaft in Erwägung ziehen dürfen als Alternative zu dem System, dass wir haben (und das unseren Planeten zerstört), weil die Diskussion sofort mit Hinweisen auf Totalitarismus abgewiegelt wird.

Fazit

In Summe war das Buch für mich sehr lesenswert. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich es bekam (auf der Seite des Justizministeriums kann man es downloaden). Aber auch wenn ich nicht weiß, warum, bin ich froh, daß ich es gelesen habe. Ich habe einiges gelernt.